FRÜHE GESCHICHTE: 1791 - 1943
BÜRGERLICHER KONZERTSAAL & FESTE VERFASSUNG
Die Frühgeschichte der Sing-Akademie ist geprägt von ständiger Raumnot. Die Chronik berichtet von zahlreichen Ortswechseln zu Abhaltung der Übungen und Auditorien, unablässig ist man auf der Suche nach geeignetem Ersatz für die immer nur temporären Räume, oft wird in den privaten Räumen der Mitglieder geprobt.
Der zweite Direktor Carl Friedrich Zelter erkennt, dass eine stetige Entwicklung und dauerhafte Existenz der Sing-Akademie nur mit eigenen Räumen zu bewerkstelligen sein würde. Um der Sing-Akademie eine Grundlage für eine „feste Verfassung" zu geben, lässt er ein eigenes „Haus für die Chormusik" entwerfen und erbauen. Das Grundstück „Am Kastanienwäldchen" erhält die Sing-Akademie 1824 von König Friedrich Wilhelm III, „um darauf ein zu Singübungen und Versammlungen bestimmtes Gebäude zu errichten." Der erste Entwurf (1821) stammt von Karl Friedrich Schinkel; auf dieser Grundlage schafft Karl Theodor Ottmer das Gebäude hinter der Neuen Wache am Kastanienwäldchen.
Im Mai 1825 beginnen die Bautätigkeiten neben dem Festungsgraben. Der hohe Grundwasserstand behindert zunächst die Grabarbeiten, so dass ein ganzes Geschoss tief in die Erde gegraben und ein Keller gebaut werden muss, wie Zelter gegenüber Goethe klagt. Beim Richtfest am 25. November 1826 sind die von Schinkel veranschlagten Baukosten bereits aufgebraucht. Am 8. April 1827 wird dieser erste reine Konzertsaal Berlins und einer der frühesten bürgerlichen Konzertsäle auf dem europäischen Kontinent eingeweiht. Im Jahr 1858 erwirbt man eine Arrondierungsfläche im Bereich des zwischenzeitlich zugeschütteten Festungsgrabens.
SCHINKELS ENTWURF
Schinkels Entwurf gilt als eine der ersten reinen Konzerthausplanungen. Er entscheidet sich für ein zweigeschossiges Gebäude. Der Fußboden des Konzertsaales ist wenige Stufen über ebener Erde und ohne Unterkellerung angeordnet. Den Gebäudefirst krönt eine Lyra mit Fischvoluten und Schwanenkrone, im Giebeldreieck sind Harfe und Lyra spielende Frauenfiguren als Symbole für Poesie, Tanz und Liedkunst emblematisch dargestellt.
OTTMER-ENTWURF UND BAUAUSFÜHRUNG
Aus Kostengründen kann Schinkels prachtvoller Entwurf nicht realisiert werden. Der Braunschweiger Architekt Carl Theodor Ottmer wird damit beauftragt, Schinkels Plan auf das tragbare Maß zu verknappen. Ottmer belässt den Raum einschließlich Kleinem (Winter-) Saal, er fügt allerdings ein Entrée im gesamten Erdgeschoss ein und legt den Saal damit ins Obergeschoss. Der Entwurf bringt die gewünschte Konzerthausstruktur. Weiterhin ersetzt Ottmer die südwestliche Seitenempore durch eine von großen Fenstern durchbrochene Wand. Die Änderung bricht die strenge Ausgeglichenheit des Schinkelschen Entwurfs auf und erzeugt dafür im Raum den (oft als störend empfundenen) Eindruck von Dynamik.
UMBAUTEN
Die stetig steigenden Zahlen an aktiven Mitgliedern und Konzertbesuchern machen im 19. Jahrhundert mehrmals Um- und Anbauten am Gebäude der Sing-Akademie nötig:
1865 erfolgt eine innere Umorganisation der Erschließungsräume des Saales nach Plänen des Architekten Martin Gropius, um weitere Zuhörerplätze unter der rückwärtigen Empore zu gewinnen. Eine Orgel wird eingebaut.
1875 wird ein zusätzlicher Treppenhausanbau an der Südwestecke errichtet - in der Architektur mehr Beeinträchtigung, in der Nutzung des Konzerthauses eine flexible Maßnahme.
1888 folgt ein zweiter Treppenhausanbau an der Nordwestecke des Hauses der Sing-Akademie. Der auch „Cäciliensaal" genannte „ Kleine Saal" wird zum Chor hin geöffnet und damit das Podium endgültig vergrößert.
BEDEUTUNG DES HAUSES
Schnell entwickelt sich das Gebäude zum Schauplatz zahlreicher wegweisender Aufführungen und zu einem zentralen Versammlungsort. So erklingen hier Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion, Johannes-Passion und die h-Moll-Messe erstmals wieder nach dem Tod des Meisters. Beethovens 9. Symphonie und Haydns „Die Jahreszeiten" erleben hier ihre Berliner Erstaufführung. Humboldt hält hier die berühmten „Kosmos-Vorlesungen", Rudolf Virchow spricht über „Goethe als Naturforscher und in besonderer Beziehung auf Schiller". Nach der Märzrevolution von 1848 tagt vom 22. Mai bis in den September 1848 die erstmals aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene Preußische Nationalversammlung in der Sing-Akademie.
Für die abgehaltenen Sitzungen der Preußischen Nationalversammlung rückt man von der konventionellen Konzertbestuhlung ab, um den Redner und die offene Debatte stärker ins Zentrum des Geschehens zu rücken. Der Redner steht mit dem Rücken zur Fensterfront mittig an der Westseite, seine Zuhörer sitzen rechts, links sowie vor ihm. Im Rücken der Längsreihen mit Blick zu den Seitenfenstern liegt die Seitenempore. Die Säulenstellung des Kleinen Saales sowie die der Eingangsempore befinden sich im Rücken der Querbestuhlung.
Dank der hervorragenden Akustik spielen hier die größten Künstler ihrer Zeit, wie Niccolò Paganini, Franz Liszt, Clara und Robert Schumann oder Johannes Brahms. Zu den zahlreichen Schallplattenaufnahmen, für die der Saal zwischen 1926 und 1943 als Tonstudio dient, gehören Einspielungen der Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler, der Staatskapelle Berlin unter Dirigenten wie Leo Blech, Erich Kleiber und Otto Klemperer und nicht zuletzt Marlene Dietrichs Chanson „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt". 1932 schloss die Telefunken-Platte einen Exklusivvertrag mit der Sing-Akademie und hatte nunmehr das alleinige Recht für Schallplattenaufnahmen in ihrem Saal; die technischen Aufnahmeeinrichtungen wurden im Keller des Gebäudes untergebracht.
Für all diese Veranstaltungen begibt man sich „in die Sing-Akademie"; die Gesellschaft und das Gebäude ihrer Betätigung werden in Berlin gleichlautend bezeichnet.
All dies nimmt ein jähes Ende, als das Haus am Abend des 22. November 1943 durch Brandbomben schwer beschädigt wird und bis auf den Keller ausbrennt. Die wertvolle Notenbibliothek, das Archiv und Teile der einst stattlichen Kunstsammlung können nur in Teilen durch Direktor Georg Schumann in Sicherheit gebracht werden. Nach Kriegsende trifft sich ein kleiner Mitgliederkreis der Sing-Akademie im West-Sektor der Stadt. Die alte Not der Sing-Akademie mit den Probenräumen beginnt erneut.